Eine für viele im täglichen Umgang eher schwierigere Emotion ist Ärger. Dieses nagende Gefühl, das uns überkommt, wenn uns etwas nicht passt und gleichzeitig unbedingt beachtet werden möchte. Ärger und Wut gehören zu den Emotionen, die schwer übersehen werden können — sofern sie eine Erlaubnis in uns und einen adäquaten Ausdruck außerhalb von uns finden.
Wie die meisten Emotionen braucht auch diese (und diese sogar besonders!) einen wohlmeinenden, fürsorglichen und sicheren Rahmen in dem sie gelernt und kultiviert werden kann. Kinder haben meist noch einen unmittelbaren Umgang mit Wut und zeigen diese sehr offen. Wachsen sie in einer Umgebung auf, die diesem Gefühl Raum geben, es halten, benennen und erklären kann, dann offenbart sich seine Bedeutung meist auch sehr leicht: Ärger und Wut sorgen für
Abgrenzung nach innen: Nein! Ich sollte hier nicht weitergehen, sondern mich zurückziehen!
Abgrenzung nach außen: Stopp! Ich gestatte dir nicht, in dieser (meine) Richtung weiterzugehen!
Bewahrung der eigenen Integrität: Was hier passiert wird mir nicht gerecht!
Tätig im Sinne der Gerechtigkeit: Diesen Missstand kann ich nicht länger akzeptieren!
Aus den Beispielen wird deutlich: Ärger macht sich stark für unsere Grenzen. Bedroht etwas unsere Grenzschicht zwischen Ich und Welt, zwischen "meinem Reich" und "deinem Reich", tritt sie auf den Plan und überprüft, ob die gezogene Grenze noch angemessen ist oder neu verhandelt werden sollte. Bei letzterem wird sie aktiv, sie führt ins Handeln und möchte Veränderung bewirken: "Stopp! Es reicht!" Möglicherweise kommt uns jemand zu nahe, nimmt uns nicht ernst, missachtet unsere Würde, unsere Freiheit oder bedroht Werte, für die wir uns im Besonderen einsetzen.
Ärger ist nicht gleich Aggression. Ärger bezeichnet das Gefühl, das uns eine Botschaft übermitteln möchte von "Hier stimmt etwas nicht". Aggression ist eine mögliche Handlung, die daraus entstehen kann. Ärger möchte aufwecken, Aggression kann Grenzen überschreiten und verletzen. Von "sauberem" Ärger sprechen wir, wenn das dahinter liegende Bedürfnis wahrgenommen und in bewusster, respektvoller Weise zum Ausdruck gebracht werden kann — das Wohl des anderen genauso im Blick behaltend wie das eigene; Er beschuldigt und beschämt den anderen nicht und lässt sich auch nicht von der Reaktivität der Aggression wegtragen. Er respektiert sowohl den eigenen Wert wie den des Gegenübers.
Wird "kleiner Ärger" übersehen bzw. übergangen, wird er zu Wut, Zorn oder letztendlich zu Hass und Gewalttätigkeit. Je weiter wir diese Stufenleiter der Aggression hochsteigen, desto weniger Handlungsfreiheit bleibt — wir "reagieren" nur noch und wissen möglicherweise gar nicht (mehr), worum es uns ursprünglich ging.
Wird Ärger unterdrückt — weil wir beispielsweise denken, dieser sei nicht angemessen, stünde uns nicht zu oder sei nicht erlaubt — nistet er sich als passive Aggression bei uns ein und vergiftet unsere Beziehungen. Dann versuchen wir, Grenzen indirekt zu verschieben, unklar, verdeckt und ohne Konfrontation. Als Spezialform des Ärgers gilt der Jähzorn: Er möchte mit seiner ungerichteten und hemmungslosen Energie darauf hinweisen, wo noch ungelebtes Leben in uns drängt und sich austoben möchte.
Solange es uns gelingt, unseren wohlwollenden Herzensraum groß genug zu halten, dass sowohl wir mit unseren Bedürfnissen als auch der anderen darin Platz finden, kann Ärger zu einer effektiven, beständigen und wichtigen Regulation von Nähe und Distanz führen, Bedrohung bzw. Gefahr abwehren und unseren Platz in dieser Welt behaupten. Er ist dann eine ebenso kraftvolle wie fürsorgliche Emotion, die unseren Raum sicher, klar und lebendig hält.
© Image AI-created by Midjourney
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