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Älter werden

Altern hat in unserer modernen Gesellschaft einen schlechten Beigeschmack: von etwas Erschreckendem, etwas, dem man eigentlich zu entkommen versucht oder dem man zumindest so lange wie möglich entgegenwirken möchte. Werbung und öffentliche Meinung versuchen uns davon zu überzeugen, dass hauptsächlich die "mittlere Phase" des Lebens als junger und leistungsfähiger Erwachsener zählt — alles, was davor passiert, dient der Vorbereitung, alles danach ist lediglich ein "Abbau" von Fähigkeiten.


Dieser Eindruck kann sich manchmal durch unser körperliches Erleben noch verstärken: Ab den mittleren Jahren wird unser Organismus von den ersten Verschleißerscheinungen begleitet und eine entsprechende Scham in uns ausgelöst: "Was passiert mit mir? Wie wird es weitergehen? Bin ich noch gut genug und damit Teil einer Gesellschaft, die auf Nutzen, Leistung, Makellosigkeit und Erfolg ausgerichtet ist?" Und spätestens wenn die ersten körperlichen Beschwerden und Defizite auftauchen, beginnt ein Reflexionsprozess, der uns mit dem Altern ganz unmittelbar konfrontiert: Vieles geht nicht mehr so wie früher — Ängste und Unsicherheiten in Bezug auf den eigenen Wert begleiten uns.


Es gibt aber auch noch eine andere, größere Sichtweise auf den menschlichen Lebenszyklus: Der dänische Psychoanalytiker Erik Erikson hat in seinem Lebenswerk eine übersichtliche Darstellung von acht Lebensphasen ausgearbeitet, durch die wir von Geburt bis Tod wandern und bei der jede einzelne für sich wichtig ist und das Durchleben der nächsten vorbereitet. Jede dieser acht Phasen hat ihre "Krisen" und damit Entwicklungsaufgaben, die gemeistert — oder besser: integriert — werden wollen, damit sich unser Leben als eine fortwährende Erfahrung von Wachstum und Reifung gestaltet. Diese haben beispielsweise mit der Entwicklung von Urvertrauen, Autonomie, Initiative, Kompetenz, Identität, Intimität und einer generativen Haltung dem Leben gegenüber zu tun. Erikson hat für diese Betrachtungen den Alltag zweier indigener Volksstämme in Nordamerika erforscht und auch dort fand er seine theoretischen Überlegungen bestätigt.


Im Besonderen möchte ich aus seinen Betrachtungen hier nur die achte und letzte Phase erwähnen: Die Phase der Ich-Integrität, weil gerade sie stellvertretend für den positiven Prozess des Älterwerdens steht, und auch wenn sie auf vorausgehenden Phasen aufbaut, stellt sie zugleich auch eine Art "Krönung" unserer Entwicklung als Mensch dar.

In dieser Lebensphase erfolgt eine Synthese aller Teile, Eigenschaften und Erfahrungen des Menschen und das Leben wird zunehmend als ein Ganzes gesehen und akzeptiert. Es kann Ordnung und Sinn darin gefunden werden, ohne dass Andersartiges ausgeschlossen werden muss. Es entsteht eine gefühlte Befriedigung aus dem Akzeptieren und Anerkennen, dass wir zu einer bestimmten Zeit leben und in eine bestimmte Familie hineingeboren worden sind; Unsere Fähigkeiten haben wir aktiv innerhalb der gegebenen Möglichkeiten und Begrenzungen entfaltet und können sie anwenden. Daraus hat sich die eigene Integrität entwickelt, die mit den Umständen der Zeit übereinstimmt und für gut befunden wird.

Bleibt diese Lebensphase und die damit verbundene Entwicklungsaufgabe hingegen ungelöst, erleben wir die Verzweiflung der eigenen Bedeutungslosigkeit, was sich als vielfache Ablehnung der Welt und anderer Menschen zeigt.


Die Erkenntnis, die ich aus diesen Betrachtung Eriksons herauslese, ist: Jede Zeit unseres Lebens hält Aufgaben für uns bereit, an denen wir wachsen und die uns sowohl zu einem persönlich als auch zu einem gesellschaftlich reiferen Menschen machen, der mit dem Leben und seinem Verlauf einverstanden ist. Wir finden dadurch unseren Platz, können immer mehr den "Plan" hinter unserem Leben erkennen und akzeptieren unsere ganz individuelle Rolle, die wir darin einnehmen. Das Leben wird in seinen Freiräumen und Begrenzungen gesehen und angenommen und der Tod ist letztlich ein natürliches Ende einer erfüllend erlebten Existenz.


Älter werden ist somit nicht primär der langsame Verfall und Verlust körperlicher Fähigkeiten, sondern ein beständiger Zugewinn an Lebenserfahrung und der zunehmenden Verknüpfung all der erlebten Ereignisse zu einem größeren, ganzheitlichen und zugleich einzigartigen Gesamtbild. Dieses Bild macht uns als individuelle Wesen aus und wir hinterlassen damit einen Eindruck im Gewebe der nachfolgenden Generationen.




© Image AI-created by Midjourney

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